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Demokratie als Patientin mit gelegentlicher Frischzellenkur

Politische Gespräche in der Lernstatt Demokratie

"Warum eigentlich Demokratie?" war das Thema der Podiumsdiskussion während der Lernstatt am Freitagabend. Kate Maleike, Redakteurin und Bildungsjournalistin des Deutschlandfunk in Köln, moderierte den Abend und forderte Meinungen und Positionen der Podiumsteilnehmenden zu verschiedenen Demokratie-Themen ein. Zum Podium zusammengefunden hatten sich Wolfgang Edelstein, ehemaliger Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik  und früherer Direktor am Berliner Max-Planck-Institut (zudem ist der gerade 80 Jahre alt gewordene ein Freund und Weggefährte des politischen Philosophen Jürgen Habermas); Kai Gehring MdB, jugend- und hochschulpolitischer Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen; Hildegard Hamm-Brücher, ehemalige Stadträtin, Landtagsabgeordnete, Staatsekretärin, Staats-ministerin und Kandidatin für das Amt der Bundespräsidentin 1994 sowie Jan Hoffmann, Vorstandsmitglied des Förderprogramms "Demokratisch Handeln" und Leiter des LiSUM Berlin/Brandenburg – ein Aktivist des  "Zentralen Runden Tisches" in der DDR nach der politischen Wende 1989.

Die Diskussion um das Thema Demokratie griff zwei grundlegende Aspekte auf, die  verschieden angesprochen wurden, jedoch nicht als getrennt voneinander angesehen werden können. Zum Einen stand die Frage nach der Beteiligung an Demokratie als politisches System im Raum. Zum anderen wurden die Werte von Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform diskutiert.

Demokratie und Politik: Von Wahlen und Demokratieverdrossenheit

Ein zentraler Punkt des politischen demokratischen Systems ist die Beteiligung an Wahlen. Diese Möglichkeit der Mitbestimmung ist grundlegend für die gemeinsame Gestaltung des Staates und des gesellschaftlichen Lebens. Ein Zuhörer aus dem Publikum formulierte sogar die Forderung, dass das aktive und das passive Wahlrecht als Teile der Verantwortung, die jeder Bürger und jede Bürgerin dem demokratischen Staat gegenüber hat, durch gesetzliche Regelung als Pflicht verankert und wahrgenommen werden müsse. Über die Diskussion, ob das aktive Wahlrecht bereits für 16jährige gelten sollte, kamen die Diskutierenden zur Frage nach der Entwicklung demokratischen Bewusstseins Jugendlicher in der Schule.

Hildegard Hamm-Brücher wies darauf hin, dass das Wahlrecht in seinem freiheitsstiftenden und Verantwortung begründenden Wert nicht ernst genug genommen werde. Sie sieht die Ursache dafür zum Einen in der fehlenden Aufklärung an Schulen, zum anderen vermisst sie Politiker und Politikerinnen, die den Jugendlichen Vorbild sein können und wollen. Generell steht sie der Absenkung des Wahlalters skeptisch gegenüber, da sie nicht glaubt, dass schon 16jährige Jugendliche in der Lage sind, genug Verantwortung zu übernehmen, um ein politisches Amt auszuführen. Dem widersprach Wolfgang Edelstein. Er betonte, dass Jugendliche durchaus in der Lage seien, schon früh Verantwortung zu übernehmen, dass jedoch die Schulkultur nicht demokratisch genug sei, um sie ausreichend auf diese Aufgabe vorzubereiten. Er nannte drei praktische Wege, um eine schuldemokratische Kultur herzustellen: den Klassenrat, die Projektdidaktik und das "Schulfeedback in Blick auf Demokratie" als Evaluation des schulischen Lebens. In seiner Überzeugung, dass die Selbstwirksamkeit der Schülerinnen und Schüler gefördert werden müsse, unterstützte ihn der junge Bundestagsabgeordnete Kai Gehring. Er wies jedoch auch darauf hin, dass zu viel Druck und Arbeitsbelastung auf den Jugendlichen liege, weshalb es vielen schwer falle, sich aktiv an der Gestaltung des Schullebens zu beteiligen. Eine Gefahr, die daraus erwachsen könne, sei nicht nur Politikverdrossenheit, sondern auch eine Demokratieverdrossenheit, betonte Jan Hoffmann und nannte als mahnendes Beispiel den Zuwachs bei den neonazistischen Bewegungen.

Gelebte Demokratie: Bildungsstreik und Mitbestimmung

Neben der Diskussion um das politische System und die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger daran, standen auch Fragen nach einer demokratischen Gesellschaft im Raum. Ein aktuelles Beispiel für den Wunsch nach Verantwortung und Partizipation ist der parallel zum Lernstatt-Treffen laufende Bildungsstreik. Während er bisher als ein Produkt der "ewig Gestrigen" oder als Debatte eines "Latte Macchiato"-Diskurses belächelt wurde, zeigten die Berichte der letzten Tage, welche Ernsthaftigkeit hinter den Forderungen stecke.

Alle Podiumsteilnehmenden betonten, wie wichtig es sei, dass Schülerinnen und Schüler sowie Studentinnen und Studenten durchhielten und für ihre Ziele einstünden. Gehring verwies in diesem Zusammenhang darauf, dass – je größer der Druck auf die Politikerinnen und Politiker sei – diese umso eher reagieren müssten. Auf ein großes Defizit macht Hofmann aufmerksam, als er die Demokratiefeindlichkeit an Schulen beschrieb. Zum Einen sei das strukturelle System ein Problem, dass zu hohe Klassenteiler ansetze und nur unzureichend qualifizierte Lehrerinnen und Lehrer zulasse. Dazu trage unter anderem der Föderalismusreformprozess bei, den Hofmann als "Weg in die Kleinstaaterei" bezeichnete. Zum Anderen gebe es keine demokratische Gestaltung des Alltagslebens der Schule als Lebensraum, an dem Eltern, Schülerschaft und Lehrerschaft gemeinsam teilnehmen könnten.

Wo steht die Demokratie in zehn Jahren?

Ihre Zukunftsvisionen äußerten alle Podiumsteilnehmenden ein wenig zögerlich. Gehring sieht die Demokratie in zehn Jahren immer noch als Patientin, die zwar weiterhin eine "Frischzellenkur" von Zeit zu Zeit brauche, aber dennoch genug Abwehrkräfte gegen neonazistische Strukturen aufbringen könne. Zudem hofft er auf mehr Formen direkter Demokratie. Dem schloss sich Hofmann an, der fordert, dass die parlamentarische Demokratie durch Elemente erlebbarer Demokratie ergänzt werden müsse.

An einige unerfüllte Versprechen nach 1989 erinnerten Edelstein und Hamm-Brücher. Weder wurde ein hohes Maß an Mitbestimmung und Demokratie in der Schule erreicht, noch wurde in gesamtstaatlicher deutscher Perspektive eine gemeinsame Verfassung entwickelt. Als Wunsch für die Zukunft bleibe somit eine Weiterentwicklung demokratischer Schulkultur sowie ein gemeinsames Arbeiten für die Aufrechterhaltung eines demokratischen Staates.

Das Spektrum der diskutierten Fragen zeigt, wie viel Diskussionsbedarf es hinsichtlich der Themen Demokratie im Staat und in der Schule gibt. Zugleich benannten die Podianten jedoch auch ihre Visionen für die Zukunft und unterstrichen dabei, welchen positiven Einfluss das Vorbild vieler Projekte der Lernstatt Demokratie in sich trage. "Das demokratische Handeln in den Projekten macht Mut, weiter zu denken, zu planen und zu arbeiten", so der Tenor dieses öffentlichen Gesprächs.

(Jena, 20.06.2009, Kathrin-Beatrice Tholen)

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29.06.2009 (LR)

 
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