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Politikergespräch

"Warum eigentlich Demokratie?" - Ein spannender Abend mit Prominenz aus der Politik

Am Abend des ersten Tages der Lernstatt Demokratie trifft man sich zum Politikergespräch "Warum eigentlich Demokratie?". Die Halle der IMAGINATA ist übervoll; die Namen der drei Diskutanten Hildegard Hamm-Brücher ("die frischgebackene Doktorandin ehrenhalber der Universität Jena", so von Peter Fauser begrüßt), Altbundespräsident Richard von Weizsäcker und Ministerpräsident Dieter Althaus hat die Jenaer Öffentlichkeit auf den Weg gebracht. Entgegen aller bekannter öffentlicher und medialer Unkereien gibt es doch ein Interesse an der Politik und insbesondere an Namen, die für Politik einstehen, so darf man vermuten. Peter Fauser - als Moderator des Abends - erinnert einleitend an den verhinderten Naziaufmarsch mit der irreführenden Bezeichnung "Fest der Völker" in Jena wenige Tage vor der Lernstatt Demokratie. Bereits um fünf Uhr morgens hätten sich am Samstag zuvor über 3000 Gegendemonstrantinnen und -demonstranten - "für die Bürgergesellschaft in Jena" - versammelt und mit den Neonazis nach dem Motto "Wir sind schon da" Hase-und-Igel gespielt. "Es kann auch von daher keinen besseren Zeitpunkt für diese Veranstaltung geben", betont Fauser. Als er anschließend die drei Redner begrüßt, hallt der Applaus von den Wänden der ehemaligen Umspannhalle wider.

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Sechs Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Lernstatt: Kristin, Leonie, Lisa, Peter, Philip und René aus zwei Schulen in Jena - dem Gymnasium "Am Anger" und der Jenaplan-Schule - sowie aus der Max-Brauer-Gesamtschule in Hamburg stellen den drei Politikern stellvertretend für die anderen Schülerinnen und Schüler Fragen. Diese wurden aus einem Ensemble an Fragestellungen ausgewählt, zusammengefasst, überarbeitet und mit den Fragestellern umfänglich diskutiert. Dabei haben die Jugendlichen den provokanten Stil des Themas "Warum eigentlich Demokratie?" aufgenommen und sprechen kluge, nachdenkliche und überraschend fordernde Aspekte des Themenfeldes an: "Wann haben Sie angefangen, politisch zu denken?" fragt Leonie die Diskutanten gleich zu Beginn. Die drei Politiker brauchen einen Moment, dann antwortet zuerst Hildegard Hamm-Brücher als erste. 1943/44 sei das gewesen, antwortet sie, als sie die Verhaftung der Mitglieder der Weißen Rose miterlebt habe, die in der Münchener Universität Flugblätter gegen das Dritte Reich verteilt hatten. "Dass Menschen bereit sind, sich für ihre Ideale mit ihrem Leben einzusetzen, hat meinen eigenen politischen Werdegang geprägt", so Hamm-Brücher. Richard von Weizsäcker sagt, mit 14 Jahren habe er zum ersten Mal unter Hitler HIHden Bruch mit den rechtsstaatlichen Bedingungen wahrgenommen, "... als ich im Radio von den ersten vollstreckten Todesurteilen gehört habe - damals war ich in der Schweiz". Er habe das nie vergessen.

Ganz anders und doch auch bedrängend erzählt Dieter Althaus, er habe das politische Denken als Jugendlicher - aufgewachsen in der DDR - in seinem Elternhaus gelernt. Durch heftige politische Diskussionen habe er unter den "äußeren Bedingungen der Unfreiheit" den "Blick für die Freiheit" entwickeln können und müssen.

Ob sie der Ansicht wären, fragt Leonie daraufhin, dass man solche Ereignisse, gemeint sei also die Unfreiheit, als Voraussetzung brauche, um demokratisch zu leben? Von den persönlichen Auskünften der Politikerrunde schließen die Schülerinnen und Schüler sofort auf die Frage, "wie man Menschen ohne die Erfahrung der Unfreiheit dazu mobilisieren kann, ihre demokratische Freiheit zu verteidigen?". Die Politiker reagieren mit Bedacht. Man müsse sich der Gefährdung der Freiheit und der Demokratie immer bewusst sein, meint Hildegard Hamm-Brücher. So "hundertprozentig sicher" sei unsere Demokratie nicht, als dass Freiheit nicht "immer wieder von Neuem gestaltet" werden müsse. Dieter Althaus bezieht sich in seiner Antwort auf seine Vorrednerin, als er sagt, Meinungsstreit um den besten Weg müsse sein, bei wichtigen Entscheidungen aber gäbe es einen Zusammenschluss und vor allem die Notwendigkeit, "zu einer Entscheidung zu kommen", so zum Beispiel beim Vorgehen gegen die Neonazis. Richard von Weizsäcker findet nachdenkliche Worte. "Demokratie hat nicht die Kraft, aus uns normalen Menschen Engel zu machen." Sie sei lediglich der Rahmen, innerhalb dessen es unsere Aufgabe sei, "so human wie möglich zusammenzuleben". Hildegard Hamm-Brücher erinnerte an die Angst, die das Leben und den Alltag in der NS-Zeit zu einer bedrückenden Erfahrung hat werden lassen: "Es gab doch nicht die Spur der Freiheit: Sie konnten nicht lesen, was Sie wollten, sie konnten nicht die Musik hören, die Sie wollten und Sie wußten doch oftmals nicht, wie offen Sie mit einem Ihnen fremden Menschen sprechen konnten". Die Erfahrung, dass fehlende Freiheit sehr schnell sich zur Angst im Alltäglichen steigert, prägt ganz elementar das Credo für Freiheit und Verantwortung, das zur Leitlinie des politischen Handelns bei Hildegard Hamm-Brücher geworden ist.

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Das Gepräch nimmt schnell an Dichte und Spannung zu! Innerhalb kurzer Zeit ist es den Jugendlichen Interviewern gelungen, zu Kernbereichen des Themas "Demokratie" vorzustoßen. Faszinierend war nicht nur die Prägnanz der Fragen bei den Jugendlichen und die persönliche Klarheit und biographische Substanz, die die drei Prominenten auf dem Podium nicht nur als große Politikerin und Politiker, sondern vor allem als Menschen mit je eigenem Weg und eigenem Gedächtnis ausgewiesen hat. Diese Zeugenschaft für die Bedingungen des eigenen Handelns und der eigenen Motive für Politik kam bei der Zuhörerschaft an, ja wusste zu fesseln.

Neben diesen eindringlichen Gesprächen werden aber auch Anekdoten erzählt. Auf die Frage zum Beispiel, wann die drei Politiker das erste Mal politisch tätig gewesen seien, antworten Hamm-Brücher und von Weizsäcker mit je eigenem Humor. Während erstere von Theodor Heuss zu hören bekam: "Mädle, Sie müssen in die Politik", bemerkte Adenauer gegenüber dem Letzteren zunächst: "In der Politik brauchen wir Sie gegenwärtig nicht." Das Gemeinsame daran war nicht nur, dass die beiden Gründungsfiguren des demokratischen Deutschland auf je eigene Art politische Temperamente aufgespürt haben, sondern vor allem, dass sich beide - Adenauer und Heuss - eigene Handlungs-, Berufs- und Lebenserfahrung als zwingende Voraussetzung für "Politik als Beruf" gesehen haben: Hildegard Brücher (so damals noch ihr Name) war Heuss ja in ihrem Berufsfeld als Münchener Journalistin begegnet, als er sie zur praktischen Politik aufforderte. Richard von Weizsäcker begenete hingegen dem damaligen Bundeskanzler Adenauer als frisch studierter Jurist ohne Berufserfahrung! Die politische Ethik dieser Zeit scheint auf dem Wechselspiel von Lebenserfahrung und -verantwortung zu beruhen, so eine der möglichen Folgerungen.

Am Ende erinnert Peter Fauser an eine Wendung von Friedrich Schiller, die dieser in einem Brief an seinen Freund Körner formulierte: "Du weißt, wie wohl einem bei Menschen ist, denen die Freiheit des andern heilig ist." Darin stecke für ihn - so Peter Fauser - eine demokratiepolitische und ebenso eine demokratiepädagogische Maxime gleichermaßen. Hiervon eine Ahnung bekommen zu haben, sei die Erfahrung, die alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer, die aktiven ebenso wie die Zuhörenden, mit Nach Hause nehmen könnten.

Also doch nicht nur politische Bildung, sondern "Demokratie Lernen"? Ein beeindruckendes Gespräch jedenfalls war es allemal. So verlassen die Teilnehmer und das Publikum die 110-Kilo-Volt-Halle in Jena gesprächsvertieft in Gruppen und Grüppchen, die sechs Schülerinnen und Schüler halten ihr Präsent - ein Buch von Hildegard Hamm-Brücher - in der Hand: "Zerreisst den Mantel der Gleichgültigkeit" - ein biblisches Wort auf einem der Flugblätter der Weissen Rose. Alles in allem ein nachdenklich machender und zugleich guter Auftakt für die Lernstatt Demokratie 2005 in Jena.H (15. Juni 2005, Wolfgang Beutel/Marie Wöpking)

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